Debatte (II) in den Medien

Foto Fernando Vargas


Und weiter geht's (13. Juli 2012): Nachgetreten

Projektleiter Christoph Baumanns: "So verliert die Kunst! Absolut richtig, was documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld an Selbsterkenntnis formulierte: 'Wir sind die kleinkarierten Typen, die die Kunst der anderen verhindern wollen.' Das klingt fast wie ein Friedensangebot, das wir gerne annehmen würden. Doch dann tritt Leifeld übel nach. Obwohl er die Kunst Stephan Balkenhols sehr schätzt, denunziert er ihn öffentlich als einen der Künstler, die 'ein Leben lang leiden, dass sie nicht zur documenta eingeladen werden – und dann könnten sie in einem katholischen Kirchturm ausstellen.' Die Ignoranz gegenüber dem, was Stephan Balkenhol zum Konflikt um die Turmfigur gesagt hat, und die Arroganz, mit der Leifeld so tut, als gäbe es die Hochreliefs und Skulpturen in der Kirche Sankt Elisabeth nicht, ist beschämend für einen, der einmal zum Ziel hatte, 'dass es nur einen Sieger gibt, und das ist die Kunst.'

Was Leifelds Ausfälle zeigen:
Wir brauchen unbedingt eine große Diskussion über das Verhältnis zwischen documenta und anderen künstlerischen Aktionen während der documenta-Zeit. Es ist keine zukunftsträchtige Lösung, die documenta als 'reine Marke' allein über die Nutzung bedeutsamer städtischer Räume bestimmen zu lassen und die Anderen als Trittbrettfahrer zu schmähen. Die documenta gehört nicht ihrer künstlerischen und geschäftsführenden Leitung. Wenn sie überhaupt jemandem gehört, dann dem Gemeinwohl, dass heißt in erster Linie der Stadt, ihren Bürgerinnen und Bürgern. Aus ihrer Mitte kam die Idee zu dieser Kunstausstellung. Dass Kassels Kreative zur jeweiligen documenta etwas zu sagen haben, mitwirken wollen und eigene Ideen verwirklichen, ist ein Schatz, den documenta-Leitung und Stadtverwaltung endlich heben sollten – und zwar mit Wertschätzung! Das wäre doch mal ein echtes (Streit-)Gespräch wert und nicht diese kleingeistigen Nummern, die uns Bernd Leifeld und Carolyn Christov-Bakargiev immer wieder zumuten. "


Der Konflikt (Mai/Juni 2012)
Die Figur, die Stephan Balkenhol für die Freifläche im Glockenturm von Sankt Elisabeth entworfen hatte, sorgte gleich nach ihrer Installation für großen öffentlichen Wirbel. Auf einer im Durchmesser 1 m hohen vergoldeten Kugel steht eine 2 m hohe männliche Figur in schwarzer Hose und weißem Hemd, die Arme ausgebreitet zum Segen oder das Gleichgewicht ausbalancierend oder in einer tänzerischen Geste oder in der Haltung des gekreuzigten Jesus.

Selbstmörder
In den ersten beiden Tagen verdeckte das Gerüst teilweise die Sicht auf die Figur, so dass die Kugel nicht zu sehen war. Manche Passanten und Anwohner dachten, es handele sich um einen Selbstmörder, der dort auf dem Turm kurz vor dem Absprung stehe und riefen die Polizei, die gleich mit Feuerwehr und Sprungtuch anrückte.

Konterkarieren
Carolyn Christov-Bakargiev, die künstlerische Leiterin der documenta 13, fühlt sich durch das Kunstwerk "bedroht". Sie sei traurig, weil dieses „äußerst spektakuläre Kunstwerk am höchsten Punkt des Friedrichsplatzes“ die Art und Weise konterkariere, wie die documenta 13 diesen Platz künstlerisch bespielen wolle. documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld spricht sogar von "Respektlosigkeit" gegenüber der documenta.

So wird berichtet und kommentiert

Hier ausgewählte Beispiele für die Berichterstattung in den Medien:

Stephan Balkenhol:
"Zum einen verstehe ich, dass die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev den Friedrichsplatz als bestmögliches Spielfeld für ihre Künstler quasi sauber halten will. Auf der anderen Seite denke ich, dass die documenta auch andere Kunst akzeptieren muss. Sonst müsste man beispielsweise auch die Figuren von Thomas Schütte auf dem Roten Palais entfernen.
Ich finde es ehrenhaft, dass mich Frau Christov-Bakargiev direkt kontaktiert und betont, dass ihre Reaktion nicht gegen meine Kunst gerichtet ist. Es ist eben so: Jeder ist stark mit sich selbst beschäftigt. Und Konkurrenz belebt das Geschäft."

Diözesanbaumeister und -konservator Dr. Burghard Preusler:
"Warum spricht man nicht mit, sondern über uns? Ich habe die documenta bislang für eine starke Veranstaltung gehalten und angenommen, sie halte auch einen Stephan Balkenhol aus, zumal der Glockenturm allein schon eine deutliche Abgrenzung zur documenta und zum Friedrichplatz sei. Wir tun das nicht, um zu provozieren. Wenn weltweite Kunst zu Gast in Kassel ist, kann auch eine weltweite Kirche ihre Räume öffnen. Ich sehe darin keine Respektlosigkeit. Der nun vorherrschende Ton verblüfft und erstaunt mich. Ich habe zeitweise gedacht, die documenta versucht zu zensieren. Vor diesem Hintergrund sehe ich derzeit keinen Anlass, an die Tür der documenta zu klopfen. Ich bin davon überzeugt, dass sich gute Kunst ergänzt. In dieser Hinsicht zeigt die documenta eine gewisse Enge."

Projektleiter Christoph Baumanns:
"Die documenta hat nie gern gesehen, wenn andere Künstler in dieser Zeit eigene Werke ausgestellt haben. Wir sehen die Weltkunstschau als kreativen Anstoß, Kunst und Kirche zusammenzubringen. Die documenta bietet ein wunderbares Forum zum Dialog. Das wollen wir nutzen, wie übrigens viele andere Institutionen und Gruppen in Kassel auch. Deshalb gehören wir auch zum Stadtprogramm im documenta-Jahr kasselkultur2012.de. Im November 2011 hat es ein gemeinsames Gespräch mit Dechant Harald Fischer, Diözesanbaumeister Dr. Burghard Preusler und documenta-Geschäftsführer Bernd Leifeld gegeben. Leifelds Ansinnen ist gewesen, dass es zur documenta keine Ausstellung in der benachbarten Kirche geben soll. Das war für uns keine Option. Es ist dann dabei geblieben, dass sich jeder auf seinen Raum beschränken wird. Die Aufforderung, dass wir auf Außenfiguren verzichten sollen, hat es expressis verbis nie gegeben. Ich kann nicht nachvollziehen, warum wir nun massiv angegangen und unter Druck gesetzt werden, zumal wir der documenta-Geschäftsführung ja noch im November 2011 vorgeschlagen hatten, ein gemeinsames Gespräch mit Frau Christov-Bakargiev zu führen. Uns nun mangelnde moralische Integrität und Trickserei vorzuwerfen, halte ich für ein grobes Foul."

Die Zitate von Stephan Balkenhol, Dr. Burghard Preusler und Christoph Baumanns wurden zuerst in der HNA (Ausgaben 10. und 11. Mai 2012) sowie auf hna online (Links siehe oben) veröffentlicht.

 

 

Schwierige Beziehung

Auch die Evangelische Kirche wurde von der documenta-Leitung aufgefordert, keine Kunst-Aktivitäten während der documenta-Zeit zu veranstalten. Sie hatte den Künstler Gregor Schneider zu einer Installation in und vor der Karlskirche eingeladen, dieses Projekt dann aber wieder gestoppt.

Bedauerlich
Im aktuellen "blick in die Kirche" (4/2012) legt die evangelische Kirche den Konflikt offen. Der Direktor des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Thomas Erne, hat der Weltkunstausstellung vorgeworfen, die Deutungsmacht über die Gegenwartskunst für sich in Anspruch zu nehmen: Die documenta-Leitung "versucht die gesellschaftliche Verankerung der Kunst stark zu machen und aus allen möglichen Perspektiven auf Gegenwartskunst zu blicken – nur nicht aus der Perspektive der Religion! Und dass die Kirche sich
diese Ablehnung der documenta-Leitung gefallen lässt, indem sie sich zurückzieht, das kann man diplomatisch nennen, es hat seine Gründe, weil es vielleicht politisch auch ganz klug ist, ist aber eigentlich bedauerlich.
"

Hier finden Sie das komplette Interview mit Prof. Dr. Thomas Erne:

blick in die kirche 4/2012 zum Konflikt zwischen documenta und Evangelischer Kirche

Debatte (I): Alle sind frei. Aber manche sind freier als andere?

Über Macht, Zensur und Perspektivwechsel.
Oder: Was steckt überhaupt hinter dem Wort bedrohlich?
Ein Fazit aus dem documenta-Streit um Stephan Balkenhol von Studierenden am Institit für Katholische Theologie an der Universität Kassel.

„Collapse and Recovery – Abbrüche, Umbrüche, Aufbrüche in der Theologiegeschichte“ lautete in Anlehnung an die documenta 13 der Titel eines von April bis Juli stattfindenden Seminars im Institut für Katholische Theologie der Uni Kassel. Unter Leitung von Prof. Dr. Johanna Rahner und Erik Müller-Zähringer beschäftigten sich zehn Studierende mit Krisen und Veränderungen der Kirche von Spätantike und Mittelalter über Nominalismus und Reformation bis hin zur Moderne. Besonders die Aufklärung und die zwei Vatikanischen Konzile rückten mit ihrer zentralen Bedeutung für die Entwicklung der Kirche in den Fokus des Seminars. In darauf folgenden studentischen Projektsitzungen fand eine Vertiefung von ausgewählten Themen der Theologiegeschichte sowie eine Beschäftigung mit der documenta 13 und der Ausstellung von Stephan Balkenhol statt. Nach verschiedenen gescheiterten Ideen und Projekten, die unseren Protest gegenüber dem Zensurversuch ausdrücken sollten, blieben schließlich übrig: die Idee, das Scheitern, der Protest, ein Zeitungsartikel und ein gruppendynamischer Prozess, der von Collapses und Recoveries geprägt war.

 

Freiheit und Toleranz
Wer Freiheit predigt, sollte nicht jammern, wenn sie ernst genommen wird. documenta-Chefin Christov-Bakargiev sprach sich zu Beginn der documenta für Freiheit und Toleranz aus – und zensierte die Turmfigur Balkenhols. Sollte man Christov-Bakargiev nun unterstellen, ihr Freiheitspostulat sei unehrlich und konsequenzlos gedacht? Oder zeigt sich Freiheit für sie nur darin, Erdbeeren das Wahlrecht zuzusprechen? In diesem Zusammenhang stellen sich die zentralen Fragen: Wann ist Freiheit in Gefahr? Und wann wird sie zur Bedrohung?

Bedrohlich?
Kriege, Krankheiten und schlechte Ernten sind zweifelsfrei bedrohlich. Und Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit? Diese Prinzipien sind aus unserer Perspektive sicher alles andere als bedrohlich. Doch selbst die Aufklärung wurde in der Vergangenheit als gefährlich eingestuft – zumindest aus damaliger Sicht der Kirche, die um ihre Gläubigen fürchtete und ihre Macht und ihren Absolutheitsanspruch in Glaubens-, Lebens- und Gewissensfragen dadurch zu verlieren drohte.

Verlustangst?
Selbst nach 200 Jahren hat sich an dieser Haltung anscheinend nichts geändert. Nur haben Spieler und Positionen gewechselt. So fühlt sich die scheinbar ganz Kassel für 100 Tage pachtende documenta-Leitung heute durch den „Mann im Turm“ bedroht, sprich: Sie fürchtet sich durch künstlerische Konkurrenz vor dem Verlust ihrer Monopolstellung.

Sich um den Begriff der Bedrohung zu streiten, ist offensichtlich wenig sinnvoll. Was der eine als Bedrohung sieht, erscheint für den anderen als Perspektive. Wir können nur mutmaßen, warum das Gefühl der Bedrohung entsteht. Und die Antwort scheint heute, wie auch damals, die gleiche zu sein: aus Angst um die eigene Zentralgewalt. Das zeigt sich heute praktisch daran, dass weder die Aufklärung noch der Mann im Turm eine tatsächliche Bedrohung darstellen. Beide haben jedoch gemeinsam, dass sie durch ihre qualitativ hohe Anziehungskraft für die jeweils selbst ernannte Zentralmacht zur empfundenen Bedrohung werden.

Mehr Toleranz und gegenseitiges Verständnis würden das Gefühl der Bedrohung wahrscheinlich erheblich senken. Ist die Bereitschaft zur Toleranz jedoch nicht vorhanden, droht eine Kollision beider Parteien. Eine Lösung aus diesem Konflikt war in der Vergangenheit oft die Zensur. So zensierte die Kirche das aufklärerische Gedankengut; die documenta versuchte das gleiche mit der Turmfigur. Die Argumente waren mit Vernunft jeweils nicht nachvollziehbar und beide Vorhaben scheiterten letztendlich. Qualität und Wahrheit setzten sich schließlich durch.

Gegen die ursprünglichen Ideale
Arnold Bode, selbst Opfer der Zensur im Dritten Reich, hätte sich bei dieser Aktion Christov- Bakargievs im Grabe umgedreht und sich gleichermaßen kopfschüttelnd zu den Kirchenvätern stellen können, die ansehen mussten, dass sich die Kirche während der Aufklärung gegen die ursprünglichen Ideale der ersten Christen ausgesprochen hat. Die Kirche hat dies im Zweiten Vatikanischen Konzil erkannt und ein Umdenken, eine Öffnung und Toleranz für das Andere gefordert. Sicherlich hat auch die documenta-Leitung die Notwendigkeit nach Toleranz schon erkannt. Durch die fehlende Umsetzung dieser Erkenntnis lässt sich dies jedoch noch nicht beobachten. Wer nun aber meint, dass die Kirche in ihrer 2000-jähirgen Geschichte am Ende ihrer Entwicklungsphase ist, wird eingestehen müssen, dass sie trotz des Zweiten Vatikanums noch immer in den Kinderschuhen steckt und sich in Toleranz üben muss. Intoleranz und Starrsinn werden normalerweise traditionell der katholischen Kirche vorgeworfen. Doch in den vergangenen Monaten zog sich documenta-Päpstin Christov-Bakargiev selbst diesen Schuh an und musste gleichsam mit den negativen Konsequenzen ihres Zensurversuches leben.

Neuentdeckung
Letztlich lädt uns die Turmfigur dazu ein, Kirche und Kunst in der Gegenwart neu zu entdecken und aus anderen, versöhnlichen Perspektiven zu betrachten. Und nicht zuletzt ist sie, vor allem vor dem Hintergrund des Streites um ihr Dasein, zum Symbol der Freiheit geworden. Dass die Diskussion um Freiheit und Toleranz auch in der Zukunft eine spannungsreiche Angelegenheit sein wird, zeigt die aktuell umstrittene Jesus-Karikatur, die in Kirchenkreisen für Empörung sorgte und schließlich teilweise entfernt wurde… Wir sagen dazu: Wer Freiheit predigt, sollte nicht jammern, wenn sie ernst genommen wird.

Gerlinde Arndt, Johannes Bleck, Franziska Luksch, Olga Martel, Julia Preußner, Anna-Helen Sander, Antonia Schick, Benedikt Schreiter, Monika Szlapka, Andreas Tobisch

 

Grundlage für den Artikel bietet eine Bildkomposition aus Eugène Delacroixs „La Liberté guidant le peuple“ (Die Freiheit führt das Volk) aus dem Herbst 1830 und den Umrissen des Kirchturms von St. Elisabeth mit Balkenhols „Mann im Turm“. Delacroixs Gemälde auf der linken Seite verbildlicht den Geist der Französischen Revolution im Zuge der Aufklärung. Die dazugehörigen Zitate entstammen aus öffentlichen Dokumenten, in denen die Kirche unter anderem Stellung nimmt zum aufklärerischen Gedankengut. In diesen Schriften wird der Prozess von einer ablehnenden bis hin zu einer befürwortenden Haltung gegenüber Freiheit und Gleichheit sichtbar. Auf der rechten Seite der Zusammenstellung ist der Kirchturm mit Balkenhols Figur „Mann im Turm“ zu sehen. Die Zitate darüber zeigen die Vorwürfe der documenta-Leitung gegen die Ausstellung der Turmfigur.

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