Es geht um Macht, nicht um Sex
[ mittendrin ]:    Frau Prof. Müllner, Sie beschäftigen sich schon seit mehr als zwanzig Jahren mit dem Thema „Sexuelle Gewalt“. Was war der Anlass dafür?

Der Anlass war ein sehr persönlicher, ich erinnere mich noch sehr genau daran. Ich besuchte als Studentin ein alttestamentliches Seminar über ‚Frauen im Alten Testament‘ an einem Freitag. Am Wochenende darauf erzählte mir eine sehr gute Freundin, dass sie beim Trampen vergewaltigt worden war. Und fünf Tage später saß ich wieder in meinem Seminar und hörte zum ersten Mal in meinem Leben die Geschichte von Tamar und Amnon aus dem Alten Testament: Eine Davidstochter wird durch ihren Bruder vergewaltigt (2. Buch Samuel, Kap. 13).Ich war völlig überwältigt davon, dass das nicht einfach Erfahrungen sind, die Frauen nur in unserer Zeit machen. Ich war natürlich auch noch ganz bewegt von dem, was meiner Freundin passiert war. Ich fasste den Entschluss, mich diesem Thema auch wissenschaftlich zu widmen und das, was ich konnte − nämlich: alttestamentliche Texte zu analysieren − in den Dienst dieser Sache stellen. Ich wollte begreifen, was bedeutet sexuelle Gewalt, um dadurch dagegen arbeiten zu können.

[ mittendrin ]:    Welche Kontinuität hat das Thema bis heute?

Nach einigen Jahren der Beschäftigung mit sexueller Gewalt in alttestamentlichen Texten, mit der Diskussion der neunziger Jahre bis hin zum Versuch, in einem Workshop das Phänomen Pornographie zu begreifen, habe ich für mich persönlich gemerkt, dass es an die Grenze zur Unerträglichkeit geht. Daher beschäftige ich mich in meiner Arbeit heute nicht mehr hauptsächlich und täglich mit dem Thema, das würde ich nicht aushalten. Ich bin dankbar, dass es besonders qualifizierten Menschen in Selbsthilfeorganisationen oder psychologischen Beratungsstellen gibt, die sich dem in ihrem Alltag aussetzen.Das Thema Sexuelle Gewalt stellt aber immer noch eine Art Prüfstein dar für die Frage ‚Stimmt’s denn in unserer Gesellschaft?‘ Solange Verhältnisse von sexueller Gewalt herrschen, kann ich nicht sagen, zwischen Männern und Frauen ist doch eh alles gut. Das ist eine Haltung, die mir vor allem von jüngeren Frauen häufig entgegen kommt, die die Gleichheit der Geschlechter und der Chancen von Frauen in dieser Gesellschaft nicht in Frage stellen. Bei der Formulierung „damals im Patriarchat“ muss ich immer schmunzeln. Ich verstehe die Unbefangenheit, aber diese Anschauungen müssen sich auch beim Thema Sexuelle Gewalt wie unter einer Prüflinse bewähren.

[ mittendrin ]:    „Sexuelle Gewalt in der Bibel“? Was wird da gesagt, erzählt?

Alle Geschichten, die mit Sexueller Gewalt zu tun haben, sind Machtgeschichten. Es geht dabei nicht nur um die Macht, die ein Mann oder eine Gruppe von Männern gegenüber einer Frau ausübt, sondern um die Ausübung von Macht, die in politische Machtverhältnisse eingewoben ist. In einer der schrecklichsten Bibelerzählungen im Buch der Richter (Kap. 19) geht es um Gewalt gegenüber dem Fremden: Ein levitischer Gast in Israel wird nicht geschützt, sondern von allen Männern der Stadt bedroht − mit dem Satz: „Gib ihn uns heraus, wir wollen ihn erkennen.“ Hier geht es ganz deutlich um sexuelle Gewalt, die diesem Mann angetan werden soll. Der Gastgeber tritt für seinen männlichen Gast ein um den Preis, dass er dessen Frau vor die Tür wirft und durch ihre vielfache Vergewaltigung sterben lässt.An dieser Erzählung sieht man: Es geht nicht einfach um die Gewalt von Männern gegen Frauen, sondern um die Machtausübung von Männern gegenüber Frauen und um die Demonstration von Macht auch gegenüber anderen Männern, hier besonders gegenüber dem Fremden.

[ mittendrin ]:    Wie beschreiben die biblischen Geschichten die Täter? Sind es nur Männer?

Es ist tatsächlich in der Bibel ausschließlich und außerhalb der Bibel bis heute zum großen Teil so, dass sexuelle Gewalt von Männern ausgeht und zwar sowohl gegenüber Männern und gegenüber Frauen. Es gibt zwar auch Verführungsszenarien, in denen Frauen Männer dazu bringen oder dazu bringen wollen, mit ihnen sexuell zu verkehren. Dabei setzen sie aber keine rohe körperliche Gewalt ein. Das wird etwa in der Geschichte von Joseph in Ägypten erzählt, der durch die Frau des Potiphar zu sexuellen Handlungen überredet werden soll und sie immerhin körperlich so aggressiv ist, dass sie ihm den Mantel wegreißt. Das kann man schon als körperlichen Übergriff bezeichnen. Aber es kommt nicht zu einer sexuellen Handlung. An anderer Stelle werden Lots Töchter dargestellt, die ihren Vater verführen, weil keine anderen Männer da sind und sie die Nachkommenschaft sichern wollen. Diese Regelverletzung – in jeder Gesellschaft wird Inzest geächtet – ist immer gleich begründet: es muss Nachkommen geben. Das sind aber Erzählungen, in denen ich die Frauen nicht als Täterinnen sehen würde und in denen es im Text auch nicht um die Darstellung und Verurteilung sexueller Gewalt geht.In den Geschichten, die ich meine, sagen auch die biblischen Erzähler und vielleicht Erzählerinnen: Das ist sexuelle Gewalt, die in der Ethik Israels klar zu verurteilen ist.

[ mittendrin ]:    Auch die Männer sind also unterschieden in Täter und Opfer. Was sagt die Bibel noch über die Opfer?

Der Fremde ist in der Geschichte im Buch Richter nur indirekt das Opfer. Er überlebt ja letztlich. Es ist die Frau, die durch die Massenvergewaltigung stirbt. Ich glaube, dass uns diese biblischen Geschichten auch beibringen, dass man zwischen Tätern und Opfern nicht per Stempel unterscheiden kann, sondern dass Täter in der Situation der sexuellen Gewaltausübung Täter sind und Opfer in dieser Situation Opfer sind. Alles danach − Aufarbeitung, Rache, Konsequenzen − schreibt die Einzelnen nicht als Täter und Opfer ein für alle Mal fest. In einer Erzählung im Buch Genesis, Kap. 34, hat die Vergewaltigung der Dina, einer Tochter Jakobs, zur Konsequenz, dass zwei Söhne Jakobs mit dem ganzen Dorf einen Krieg anfangen. Der Täter wird so mitsamt seiner ganzen Familie und seiner Stadt zum Opfer dieses listig inszenierten Kriegs gemacht.

[ mittendrin ]:    Bietet die Lektüre biblischer Geschichten eine Hilfe bei der Auseinandersetzung mit dem Thema „Sexuelle Gewalt“?

Auch für heute ist plausibel: Nur in der jeweiligen Situation sind Täter Täter und Opfer Opfer. Es ist eine ganz wichtige Feststellung von Menschen, die sexuelle Gewalt erfahren haben: Ich bin nicht mein ganzes Leben lang Opfer und sonst nichts.Es gibt aber auch biblische Erzählungen, in denen Frauen mehrfach unterliegen. So in der anfangs erwähnten Geschichte von Tamar und Amnon. Der zweite Bruder Abschalom gibt ihr ein Zuhause, sperrt sie aber auch in diesem Zuhause ein und sagt: ‚Sprich nicht darüber!‘ Durch das Schweigegebot macht er sie zum zweiten Mal zum Opfer.Biblische Erzählungen sind nicht dazu da, dass sie ein gutes Ende vorschlagen, sondern dass sie zur Auseinandersetzung anregen. Ich kann am Ende einer schrecklichen biblischen Erzählung, die ich kaum aushalten kann, auch zu dem Schluss kommen: Die Geschichte hat mir die Augen geöffnet für bestimmte Gewaltverhältnisse; sie hat mich dazu gebracht, diese genauer anzusehen. Das ist für mich das Hauptziel der Analyse von Gewalttexten: die Gewaltverhältnisse, in denen auch ich lebe, in die auch ich verstrickt bin, noch besser zu erkennen.

[ mittendrin ]:
    Wie haben Sie vor dem Hintergrund Ihrer Arbeit die aktuelle Mißbrauchsdiskussion Anfang des Jahres erlebt?

Das Reden über sexuelle Gewalt, das Anfang 2010 sehr stark in die mediale Öffentlichkeit getragen wurde, war sehr wertvoll. Es ist nach wie vor ganz wichtig, den Leuten großen Respekt zu zollen, die an den unterschiedlichen Punkten der Verstrickung in sexuelle Gewalt im Frühjahr 2010 die Öffentlichkeit gesucht haben. Das gilt für die Menschen, die damals zu Opfern gemacht wurden und die sich nun in die Öffentlichkeit stellen und sich dazu bekennen. Respekt verdienen auch Verantwortliche wie der Rektor des Berliner Jesuitenkollegs Klaus Mertes, der Vorfälle und Diskussion an die Öffentlichkeit brachte.Aber über die große Überraschung über die Aufdeckung der Missbrauchsfälle war ich schon sehr erstaunt, weil ich mich gefragt habe: Was ist denn jetzt anders als vor fünfzehn Jahren, als es vor allem Feministinnen waren, die diese Fragen in die Öffentlichkeit gebracht haben? Was unterscheidet aktuell bekannt gewordenen Fälle von längst veröffentlichten Fällen in (auch) kirchlichen Institutionen?

[ mittendrin ]:    Was vermuten Sie?

Es scheint ein größerer Skandal zu sein, wenn Männer zum Opfer gemacht werden. Das ist schon in der Bibel so: Genesis, Kapitel 19, parallel zu Richter, Kapitel 19. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Mädchen zu Opfern gemacht werden. Diesmal handelte es sich aber um Jungen, die zudem jetzt Männer sind und selbst in der Öffentlichkeit ihre Anliegen vorbringen können. Sowohl die Schüler des jesuitischen Canisius-Kollegs, als auch die Schüler und Schülerinnen der reformpädagogischen Odenwaldschule sind nicht selten Menschen, die es gewohnt sind, mit Öffentlichkeit umzugehen, und die besser ein Forum für die Problematik finden konnten, als manch andere in den letzten Jahrzehnten.Aber ich würde heute auch sagen, dass die − meist feministische − Arbeit der achtziger und vor allem neunziger Jahre im deutschen Sprachraum ebenfalls den Boden für die breite Resonanz bereitet hat, die das Thema 2010 fand.

[ mittendrin ]:    Sie sagen: Es geht nicht um Sex, sondern um Macht. Wie könnte man das auf auf heutige Verhältnisse übertragen?

Man müsste genauer sagen, es geht natürlich auch um Sexualität, aber das ist nicht der analytische „Anpackpunkt“. Es ist jedenfalls ein Fehler, den Akt sexueller Gewalt als ein bisschen missglückte Verführung oder ein bisschen ausgerutschte sexuelle Lust einzuordnen. Betrachtet man Missbrauch von der Seite der Sexualität her, bekommt auch die Sexualität das größere Gewicht. Sieht man aber Macht und Gewalt als Dreh- und Angelpunkt, funktioniert Sexualität eher als Werkzeug. Der Täter will kein gutes sexuelles Erlebnis, sondern sein Ziel ist letzlich, Macht und Gewalt auszuüben mit der speziellen Waffe der Sexualität, die besondere Verletzungen zufügt.

[ mittendrin ]:    Sie bilden junge Menschen zu Lehrern und Lehrerinnen aus. Welche Konsequenzen ziehen Sie für Ihre Lehre aus Ihren Erfahrungen mit dem Thema?

Ich bilde zunächst Menschen für den Umgang mit biblischen Texten aus und auf den Bereich würde ich meine Konsequenzen beschränken. Bestimmte Fähigkeiten, die angehende Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit sexueller Gewalt brauchen, kann ich nicht trainieren. Ich kann höchstens auf diese Problematik hinweisen und appellieren: Holt Euch bestimmtes Handwerkszeug zum Beispiel im Erkennen von Gewaltverhältnissen, denn das kann ich Euch hier nicht vermitteln.Was ich aber kann und versuche zu leisten, ist, für die unterschiedlichsten Erfahrungen in unserer Welt eine Sprache zu finden, die nicht tabuisiert. In meinen Seminaren wird − neben vielen anderen Themen − auch über Sexualität und über Gewalt gesprochen, aber natürlich nicht im Sinne einer Selbsterfahrungsgruppe; denn das sind wir nicht. Es geht um die theoretische und analytische Auseinandersetzung, die zeigen kann, wir können solche Themen angucken und darüber sprechen. Wir schieben sie nicht in irgendeine Schmuddelecke mit der Maßgabe ‚Bloß nicht hinschauen!‘ So weit gehe ich in meinen Veranstaltungen, dass auch Schweres, Belastendes zum Thema gemacht wird, ohne dass „Outing“ gefragt ist. Im Gegenteil: die eigene direkte Betroffenheit ist nicht mein Einstieg, da liegt nicht meine professionelle Kompetenz.Stattdessen glaube ich, dass die indirekte Beschäftigung mit sexueller Gewalt, ihre Thematisierung anhand eines biblischen Textes nochmal ein Schlaglicht zurückwirft auf die eigene Wirklichkeit und die zukünftigen Pädagoginnen und Pädagogen wach und sensibel macht für das, was in der Gegenwart vorgeht.

[ mittendrin ]:    Frau Müllner, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Die Fragen stellte Dr. Annette van Dyck-Hemming.
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